Wettlauf gegen Überflutung von Dresdner Unterwelt
Das Kanalsystem an der Dresdner Carolabrücke ist nach dem Einsturz knapp an einem Desaster vorbeigeschrammt. Was die Stadtentwässerung jetzt unternimmt.
Nach wie vor bot sich in Dresden ein Bild der Zerstörung, als Michael Neumeister am rechtselbischen Neustädter Ende des eingestürzten Zugs der Carolabrücke aus dem Schacht emporstieg – auch wenn schon viele Trümmer beräumt waren. Er ist einer der TV-Kanalinspekteure der Stadtentwässerung Dresden, die unweit des Elbufers mit ihrer Technik die Schäden im Untergrund begutachten.
Fast unbeachtet von der Öffentlichkeit waren nach dem Brückeneinsturz am 11. September 2024 beim nahenden Elbehochwasser schnelle Entscheidungen nötig, um ein Desaster abzuwenden. Doch dem ist das Kanalnetz in der Dresdner Neustadt knapp entgangen. „Jetzt erfassen wir mit unserer TV-Inspektionstechnik die Schäden und reinigen die Bauwerke und Kanäle“, erklärt Alexander Hilz, der als Meister Kanalinspektion dafür zuständig ist.
Der Auftakt: Abstimmung im Katastrophenstab
Die Tage nach dem Brückeneinsturz werden für Thomas Würfel unvergesslich bleiben. Als Teamleiter Abwasserableitung ist der 59-jährige Fachmann bei der Stadtentwässerung dafür zuständig, dass im Kanalnetz alles gut funktioniert. Das Neustädter Ende der Carolabrücke ist dabei ein besonders sensibler Bereich. Dort kommt mit dem Neustädter Abfangkanal der rechtselbische Hauptkanal zu einem unterirdischen Regenüberlaufbauwerk. Über dessen Trennwand läuft bei besonders starkem Regen durch zwei Auslasskanäle stark verdünntes Abwasser in die Elbe über. Schwillt der Fluss bei Hochwasser allerdings an, verschließen zwei stählerne Hochwasserschieber die großen Betonröhren in der Gegenrichtung.
Denn sonst würde das gesamte Neustädter Abwassernetz überflutet und damit kollabieren. Genau das drohte am ersten Wochenende nach dem Einsturz. Am Freitag war Teamleiter Würfel im Krisenstab, sprach mit Brückenabteilungsleiter Holger Kalbe und Brückenexpertin Grit Ernst vom Dresdner Straßenbauamt.
Das Drama: Schacht von Hochwasser-Absperrschieber verschüttet
Der Abbruch des Brückenteils am Neustädter Ende hatte bereits begonnen. Er sollte bis Sonntagvormittag dauern. „Ab 9:30 Uhr konnten wir ran“, berichtet Würfel. Das war auch dringend nötig. Schließlich stieg die Elbe schnell an und hatte am Sonntag bereits den Pegelstand von 4 Metern überschritten, bei dem die Alarmstufe 1 ausgelöst wird.
Bei 4,80 Metern müssen die Hochwasserschieber geschlossen sein. Jetzt musste es schnell gehen. Sonntags um halb zehn ging Würfel mit dem Brückenabteilungsleiter in den Raum hinter dem Brückenende, wo auch die Fernwärmeleitungen gekappt sind. Dort stand der Schaltschrank für die Absperrschieber, der stark lädiert war. Sogar Kabel waren schon verschmort. Ein Notstromaggregat wurde zugeschaltet. „Den Schieber für den inneren Auslasskanal konnten wir elektrisch schließen. Das hatte ich nicht erwartet“, erzählt Würfel. Doch am Schaltknopf für den anderen Schieber ging nichts. „Das Kabel war schon zu sehr beschädigt. Für solche Fälle haben wir ein Handrad im Schacht für den Hochwasserschieber.“ Doch auf der Abdeckung mit Holzbohlen türmten sich noch Betontrümmer und Teile von Bewehrungsstählen der Brücke. An den Hochwasserschieber war kein Herankommen.
Nach Abschluss der Abbrucharbeiten war ein Baggerfahrer nicht erreichbar. „Da war guter Rat teuer“, sagt Würfel. Noch am Nachmittag sollte die Elbe die kritische Marke überschreiten und 5 Meter erreichen. „Wenn dann das Wasser in den Auslass reindrückt, würde die gesamte Neustädter Kanalisation geflutet“, erklärt er die Konsequenz.
Die Blitzaktion: Notlösung mit Gummiblase
Eine Notlösung gab es aber noch. Für solche Kanäle wie diesen mit seinem Durchmesser von einem Meter gibt es eine Gummiblase, mit dem er abgesperrt werden kann. „Das ist aber kein sicherer Schutz“, erklärt Würfel. Er alarmierte die Bereitschaftsdienste. Teamleiter Würfel war mit seinen Kanalspezialisten Alexander Würzburg und René Mehlhorn im Einsatz. Sie bekamen unerwartet Verstärkung. „Unser bester Schweißer Dirk Wyscik stand mit seiner Frau beim Sonntagsspaziergang hinter der Absperrung. Da habe ich ihm scherzhaft zugerufen, ob er uns nicht helfen will“, erinnert sich Würfel. Das ließ sich der Schweißer nicht zweimal sagen. Er kletterte über die Absperrung, holte im Klärwerk seine Ausrüstung und legte mit los.
Die am Haken befestigte Blase wurde am Seil in den größeren Hauptkanal hinabgelassen. Da es stark regnete, stand das Wasser dort schon sehr hoch. Und es stieg immer weiter. Kurz dahinter befindet sich das Regenüberlaufbauwerk, aus dem der ca. 10 Meter hinter dem Hochwasserschieber positionierte Auslasskanal abzweigt. Die Gummiblase wurde in die Öffnung geschoben, mit Druckluft gefüllt und dahinter mit zwei Stahlträgern in der Wand befestigt, die schnell in der Schlosserei hergestellt wurden. Gegen 16 Uhr war der Auslass dicht, das Hochwasser konnte kommen.
„Das Wasser stand uns schon bis zur Oberkante der Wathose. Eine Stunde später wären wir nicht mehr in den Kanal gekommen“, berichtet Würfel. „Wir haben stundenlang im kalten Wasser gestanden. Ich war so ausgekühlt, dass ich mich zu Hause erst einmal zwei Stunden unter die warme Decke legen musste.“
Die Lösung: Bagger beräumt Zugang
Am Montagmorgen rief er bei Brückenabteilungsleiter Kalbe an, der einen Bagger der Abbruchfirma vorbeischickte. Die beräumte die Trümmer auf der Schachtabdeckung, sodass der sichere Hochwasserschieber per Handrad geschlossen werden konnte. Die provisorische Gummiblase hatte ausgedient. Das war dringend nötig, denn der Elbpegel stieg noch auf über 6 Meter.
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Die Inspektion: Kamera erfasst jetzt die Schäden
Jetzt erfasste der vom TV-Inspektionsfahrzeug aus gesteuerte Kamerawagen jede Ecke der Kanäle unter der Carolabrücke. „Im Büro werden unsere Spezialisten die Aufnahmen auswerten“, erläutert Inspektionsmeister Hilz den nächsten Schritt. Danach wird entschieden, welche Instandsetzungs- und Reinigungsarbeiten nötig sind. Denn die Auslasskanäle sind zum Teil mit Abbruchschutt gefüllt, der durch verschobene Gullydeckel hinabgefallen war. „Die Überdeckung über den Kanälen ist gering“, erklärt Teamleiter Würfel. „Wir sind froh, dass die Oberfläche den Sprengungen und den Fahrten von Baggern und Bergepanzern standgehalten hat.“ Dennoch könnten erhebliche Schäden an den Kanälen entstanden sein. „Das werden wir nach Auswertung der Inspektionsergebnisse wissen“, sagt Würfel.
Die Perspektive: Brücke muss komplett abgerissen werden
Am 11. Dezember legte der mit der Untersuchung beauftragte Brückenexperte Prof. Steffen Marx von Institut für Massivbau der TU Dresden ein Gutachten vor. Danach muss die Spannbetonbrücke mit allen drei Zügen komplett abgerissen werden. Als Hauptgrund sieht er eine wasserstoffinduzierte Spannungsrisskorrosion durch Feuchtigkeitseintrag während der Bauphase, verstärkt durch Ermüdung der Spannstähle. Eine Kombination aus besonderer Temperaturbeanspruchung und Verkehrslast auf der Brücke führte zu den entscheidenden Spanndrahtbrüchen, ist der Gutachter überzeugt. Nach dem Abriss soll die Dresdner Carolabrücke neu gebaut werden.
Zum Einsturz der Dresdner Carolabrücke ist unter Federführung des Autors dieses Berichts Peter Hilbert ein Buch erschienen: „Der Brückeneinsturz – Dramatische Ereignisse, Geschichte und Geschichten rund um die Carolabrücke und andere Dresdner Elbebrücken“, Verlag DDV Sächsische Schweiz/Osterzgebirge GmbH. Es umfasst 98 Seiten, kostet 18 Euro und kann im Buchhandel unter der ISBN-Nummer 978-3-936642-34-6 bestellt werden. Das Buch kann auch per E-Mail bestellt werden: TP.Freital@ddv-mediengruppe.de
Zum Inhalt: Das erste Kapitel dieses Buch enthält zahlreiche Berichte der Sächsischen Zeitung, in denen die Ereignisse ab der dramatischen Nacht dargestellt werden. Außerdem dreht es sich um die Geschichte der alten und der neuen Carolabrücke. Doch welche Geschichte haben die anderen Dresdner Elbebrücken und wie ist ihr Zustand? Das wird im dritten Kapitel umfassend geschildert.
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