ArtIST und aiControl
Im Hauptquartier von IBAK in Kiel sind moderne Maschinentechnik und klassische Handwerkskunst in der Fertigung sowie IT-gestützte Planung, Entwicklung und Innovation in großem Stil vereint. Wie IBAK den letztgenannten Aspekt für sich wahrnimmt, erklärt Software-Vertriebsleiter Arno Jugel in Teil 5 der Fachartikelserie „KI-unterstützte Zustandsbewertung von Abwassersystemen“.
Die IBAK Helmut Hunger GmbH & Co. KG wurde im Jahr 1945 in Kiel gegründet. Seitdem beschäftigt sich IBAK mit der Entwicklung, Herstellung und Fahrzeugintegration von Kamera- und Messsystemen für die Kanalzustandserfassung sowie seit gut zehn Jahren von Robotersystemen für die Kanalsanierung. Heute zählt das Unternehmen, dessen Führung weiterhin in Familienhand liegt, auf sieben Standorte in Deutschland verteilt über 400 Mitarbeiter. Dazu gehört auch eine breit aufgestellte Softwareabteilung, die die historisch gewachsenen, hauseigenen IT-Anwendungen für alle Schritte der Kanalinstandhaltung mit den modernen Technologien der KI verknüpft.
ISAS: Herr Jugel, wann und auf welchem Wege hat IBAK damit begonnen, sich mit der automatisierten Bilderkennung im Kontext der Kanalzustandserfassung auseinanderzusetzen?
Arno Jugel: Erstmals befasst haben wir uns mit diesem Themenfeld im Zuge der Markteinführung unseres 360-Grad-Inspektionssystems Panoramo im Jahr 2002. Der revolutionäre Aspekt dieses Kamerasystems bestand im Vergleich zu den bis dato verbreiteten Dreh-Schwenkkopfkameras darin, dass Videoaufnahme und Zustandskodierung nicht mehr simultan, sondern zeitlich voneinander entkoppelt stattfinden können. Bereits dadurch konnte eine erste deutliche Optimierung bewirkt werden: einerseits durch die resultierende höhere Fahrgeschwindigkeit der Kamera, ohne dass der Bediener bereits Entscheidungen für die Zustandserkennung treffen muss, andererseits durch die Möglichkeit, die Arbeitsschritte der Videoaufnahme und der Zustandseingabe zeitlich und damit auch organisatorisch zu trennen. Seit mehr als 20 Jahren ist es also bereits möglich, interne Abläufe auf diese Weise zu optimieren und beispielsweise die Aufgaben wie die Zustandserfassung outzusourcen.
Innerhalb mehrerer Forschungsprojekte mit der RWTH Aachen befassten wir uns weiterhin mit der automatischen Bilderkennung zur Zustandserfassung, damals noch nicht KI-gestützt, sondern mittels regelbasierter Algorithmen. Trotz vereinzelter Entwicklungserfolge hatten wir das Thema noch nicht als marktreif bewertet. Erst mit dem Einsatz der KI-Techniken ab dem Jahr 2018 registrierten wir einen enormen Technologiesprung in der Bildverarbeitung und nahmen die Entwicklung wieder auf.
In nur drei Monaten hatten wir sehr beachtliche Erkenntnisse erarbeitet. Daraufhin entschieden wir, eine schlagkräftige KI-Abteilung zu forcieren und akquirierten spezialisiertes Personal. Heute befassen sich zusätzlich zu unserer klassischen, ca. 25 Köpfe zählenden Softwareabteilung ein weiteres Dutzend Experten gesondert mit sämtlichen Anwendungen der KI für die Kanalinstandhaltung. Dazu gehören momentan insbesondere IBAK ArtIST, unser System für die automatisierte Zustandskodierung auf Basis von Videoaufnahmen, sowie IBAK aiControl, das die Bewegungen von Dreh-Schwenkkopfkameras autonom steuert.
ISAS: Wie herausfordernd war es für Sie, auch aus kultureller Sicht, diese damals noch neuartigen Technologien und Denkmuster mit der technisch geprägten Welt Ihrer Belegschaft und Ihres näheren Umfelds zu vereinen?
Jugel: Das war überhaupt kein Problem, ganz im Gegenteil: Unsere positiven Erfahrungen aus dem Projekt im Jahr 2018 haben eine große Begeisterung für alle KI-verwandten Themen bei uns im Team entfacht, zumal technische Innovation schon immer in den IBAK-Genen steckt. So sind wir gestrickt: ständig auf der Suche nach neuen technischen Möglichkeiten, aus denen wir Lösungen für unsere Anwender entwickeln können. Da machen Technologie-Sprünge wie mit der künstlichen Intelligenz uns allen richtig Spaß.
Auch die Nutzer unserer Systeme haben uns von Anfang an förmlich überrannt, weil sie von der Kombination aus Kanalinspektion und KI regelrecht gehypt waren und diese Tools unbedingt von uns wollten. Der Stolz, bei dem Aufbau dieser Systeme dabei zu sein und eigenes Know-how einfließen zu lassen, ist größer als eine etwaige Sorge über Veränderungen, die mit der Einführung der neuen Schlüsseltechnologie einhergehen könnten, wie es vielschichtig in der Öffentlichkeit zum Thema KI diskutiert wird.
„Mit der KI-Lösung werden von IBAK keine Wertschöpfungsanteile übernommen, die bisher durch die Kunden generiert worden sind.“
ISAS: Das sind doch gute Voraussetzungen. Dann lassen Sie uns in medias res gehen und die IBAK-KIs selbst beleuchten. Auf welche Zielgruppen sind Ihre KI-Systeme ausgerichtet und welchen Mehrwert bieten sie den Nutzern?
Jugel: Prinzipiell gesagt helfen unsere KIs allen Akteuren, die das Know-how der Zustandserfassung innerhalb der eigenen Institution tragen und diesen Prozess in Eigenleistung erbringen. Meist sind dies TV-Inspektionsfirmen, in einigen Fällen greifen aber auch Kanalnetzbetreiber und Ingenieurbüros auf unsere KI-Services zurück, sofern sie selbst Zustandserfassung betreiben. Uns war von Anfang an sehr wichtig, die Zielgruppe unserer KI derartig klar zu umgreifen, da nur so die beim Nutzer auch aus der öffentlichen Diskussion geschürte Erwartungshaltung befriedigt werden kann.
Der Mehrwert unserer KI-Systeme besteht darin, dass der Anwender Werkzeuge erhält, die ihn um zeitaufwendige und fehleranfällige Teilprozesse seiner eigenen Dienstleistung entlasten. Und das Arbeitsergebnis wird zudem in einer höheren, homogeneren Qualität bereitgestellt. Darüber hinaus helfen wir denjenigen dieser Zielgruppe, die mit dem Verlust von Fachkräften zu kämpfen haben, indem wir das Know-how der besten Zustandserfasser des Landes in unseren KI-Diensten zusammenführen und für alle anderen nutzbar machen.
Ihre Frage nach der Zielgruppe bedarf dringend der Klärung, welche Rolle IBAK im Marktgefüge einnimmt. IBAK ist produzierendes Unternehmen und eben kein Dienstleiter, der Zustandsdaten erfasst. Vielmehr versetzten IBAKs Lösungen Kanalinspekteure, Ingenieurbüros, Netzbetreiber und Kanalsanierer in die Lage, effizient, wirtschaftlich und erfolgreich zu arbeiten. Mit der KI-Lösung werden von IBAK keine Wertschöpfungsanteile übernommen, die bisher durch die Kunden generiert worden sind. Das im Markt bestehende Gefüge aus Auftragnehmern und Auftraggebern von Inspektionsdienstleistungen bleibt mit IBAK ArtIST erhalten.
ISAS: Wie stellt sich der klassische Workflow bei der Anwendung von ArtIST und aiControl dar? Wie hängen diese beiden Werkzeuge miteinander zusammen?
Jugel: Lassen Sie uns mit IBAK ArtIST, unserer Lösung für eine KI-basierte Zustandskodierung, beginnen. Dieser Service ist in der Nutzeroberfläche der Inspektionssoftware IKAS evolution integriert und kann bei Bedarf durch den Nutzer dazugebucht werden. ArtIST ist Bestandteil der IKAS evolution-Plattform mit einem umfangreichen Portfolio an nationalen und internationalen Datenschnittstellen und Regelwerken sowie Anwendungsfällen von der 3D-Verlaufsmessung über die Profilanalyse bis zur Sanierungsplanung.
Zudem liefert das ArtIST-System für jeden Zustand eine dreistufige Skala, aus der hervorgeht, wie sicher es sich mit der jeweiligen Feststellung ist. Zustände, für die dieses Konfidenzmaß geringer ausfällt oder deren Kodierung bspw. mangels Interpretierbarkeit des Bildes lückenhaft ist, kann der Bearbeiter nun manuell nacharbeiten. Erst danach lässt die Software den Export der Zustandskodierung über ein beliebiges Datenaustauschformat zu. Hierfür können sämtliche Datenschnittstellen aus dem Portfolio von IKAS evolution gewählt werden.
IBAK ArtIST wird derzeit für die KI-basierte Zustandskodierung von Panoramo-Inspektionen von Kanälen ab einem Rohrinnendurchmesser von 150 mm genutzt. Für Aufnahmen durch Dreh-Schwenkkopfkameras und Drohnen, sprich für die Analyse von MPEG-Filmen, konnten wir in unseren bisherigen, internen Testläufen positive Ergebnisse verzeichnen. Wir sind guter Dinge, ArtIST demnächst auch für den MPEG-Anwendungsfall nutzbar machen zu können.
Allerdings liegt es auf der Hand, dass die Kameraführung einer Dreh-Schwenkkopfkamera oder Drohne durch einen menschlichen Bediener sehr individuell ist und die optischen Verhältnisse für die nachfolgende Zustandsanalyse durch ArtIST hier wesentlich divergenter sind als bei Panoramo-Scans, die ein Operator-unabhängiges Bild bieten. Zur Minimierung dieser Unsicherheiten haben wir uns dazu entschlossen, ein zweites KI-gestütztes System für die Kanalzustandserfassung durch Dreh-Schwenkkopfkameras zu entwickeln, nämlich IBAK aiControl. Es ist während der Untersuchung unabhängig von einer Netzverbindung offline zu betreiben und sorgt dafür, dass die Kamera autonom, also ohne menschliches Zutun, und stets nach den gleichen Mustern fährt, dreht, schwenkt, zoomt und sogar in Anschlüsse einfädelt. So wird sichergestellt, dass unser ArtIST auch von Dreh-Schwenkkopfkameras mit möglichst homogenen Eingabedaten gefüttert wird. Der Außenwelt haben wir aiControl auf der IFAT 2022 erstmals als Demo-Version präsentiert und arbeiten daran, diesen Prototypen der autonomen Kanalinspektion zur Praxisreife hin zu entwickeln.
ISAS: Den beiden KI-Systemen das „fachtechnisch richtige“ Verhalten anzutrainieren war dank Ihrer langjährigen Branchenerfahrung wahrscheinlich eine einfache Übung für Sie?
An dieser Stelle möchte ich betonen, dass wir alle von außen eingehenden Daten vor der Verarbeitung anonymisieren. Uns liegen also keinerlei Informationen darüber vor, von wem sie wo erhoben wurden. Lediglich was im Videobild zu sehen ist und was unser ArtIST sowie der zuständige Inspekteur daraus gemacht haben, werten wir aus. Diese Vorgehensweise kommunizieren wir offen und transparent an alle Nutzer.
Weil die Funktionalitäten von aiControl und ArtIST ineinandergreifen, werden beide Systeme auf derselben Datenbasis trainiert. Für das Training von aiControl werden die Daten allerdings in vereinfachter Form verwendet, da aiControl nicht wie ArtIST eine gründliche Schadensbeschreibung, sondern „nur“ eine Art Anomalieerkennung und daraus abgeleitete Kamerabewegung zu leisten hat. Die vollständige Zustandskodierung übernimmt im Anschluss daran dann wieder der ArtIST-Webservice.
ISAS: Bei welchen Zuständen fiel das Training der KIs leichter? Gab es auch Zustände, die Ihnen viel Kopfzerbrechen bereitet haben?
Jugel: Grundsätzlich gilt: Je mehr homogen kodiertes Bildmaterial zu einem Zustandstyp vorliegt, desto einfacher lässt er sich durch die KI reproduzieren. Aus diesem Grund haben wir das Training mit den Kodes für Anschlüsse begonnen, die ca. 60 Prozent aller Zustandseingaben ausmachen und durch den Zustandserfasser wegen ihres relativ einfachen Erscheinungsbildes stets sehr ähnlich beschrieben werden.
Bei komplexeren Schadensbildern weichen die Wahrnehmungen verschiedener Inspekteure dagegen eher voneinander ab. Eben diese Fälle, die die Pausendiskussion der Kanalinspektions-Kurse ausfüllen, sind es, die auch im KI-Training eine Herausforderung darstellen.
ISAS: Apropos Schadensansprache: Wie „sensitiv“ sollte eine Zustandserfassungs-KI den Kanalzustand Ihrer Einschätzung nach dokumentieren?
Jugel: Die einschlägigen Regelwerke bieten eine unmissverständliche Definition der „Lehrbuch-Zustandserfassung“. Nur das, nichts Anderes, muss durch eine Zustandserfassungs-KI wiedergegeben werden, auch wenn es im Vergleich zur manuellen Kodierung unter Umständen zu einer ausführlicheren Dokumentation führt. Sämtliche Sensitivitätseinstellungen für die nachfolgenden, ingenieurfachlichen Arbeitsschritte sind sinnvoll und richtig, können jedoch ohne Weiteres KI-unabhängig gelöst werden, bspw. über adäquate Datenbank-Operationen.
„Das Ende der Entwicklung ist ungemein schwer zu definieren, aber wir sind im Trainingsprozess schon weit gekommen.“
ISAS: Können Sie den Trainingsstand von IBAK ArtIST beziffern? Wie viele Prozente fehlen Ihrer Ansicht nach, bis das KI-System sämtliche Zustandsarten selbstständig erkennt und beschreibt?
Unter dem Strich sind wir im Trainingsprozess schon weit gekommen, was auch die positiven Rückmeldungen der ArtIST-Nutzer bestätigen.
ISAS: Ein heiß diskutiertes Thema bei derartigen Anwendungen ist die Datensicherheit. Wie gehen Sie damit um?
Jugel: Dieses Thema genießt bei uns höchste Priorität. Daher legen wir Wert darauf, dass die Datenverarbeitung und -speicherung im Zusammenhang mit den IBAK-KIs DSGVO-konform und innerhalb Europas stattfindet. Zudem erhält die KI zur Analyse ohnehin nur die anonymisierten Videodaten, wie vorhin erwähnt. Unsere IT-Infrastruktur ist – genauso wie die der Rechenzentren, mit denen wir zusammenarbeiten – auf einem sehr hohen Sicherheitsstandard zertifiziert.
ISAS: Genauso bewegt das Thema Nachhaltigkeit viele Menschen innerhalb und außerhalb unserer Branche. Wie können die KI-Werkzeuge von IBAK dazu beitragen?
Jugel: Der Kanalnetzbetrieb ist bekanntermaßen – unabhängig von KI-Methoden – in vielerlei Hinsicht nachhaltig. Die KI hilft dann dabei, aus den eingesetzten Ressourcen noch mehr Output zu generieren, bspw. indem die richtige Maßnahme zum richtigen Zeitpunkt ergriffen wird. Im Bereich solcher strategischen Instandhaltungsempfehlungen sind wir am Forschungsprojekt „KIKI – KI-basiertes Kanalinstandhaltungsmanagement“ beteiligt, das innerhalb des Programms „Digital GreenTech“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird. Der Nachhaltigkeitsbezug unserer IT-Projekte wird also definitiv wahrgenommen.
ISAS: Wie schätzen Sie den Einfluss der diskutierten KI-Systeme auf die Arbeitsabläufe unserer Branche in Zukunft ein?
Jugel: Wir sind uns sicher, dass KI in unserer Branche weiterhin Einzug halten wird, um dem zunehmenden Fachkräftemangel durch gezielteren Einsatz des Expertenwissens entgegenzuwirken. Dennoch wird es bis zu einer flächendeckenden Verbreitung der KI-Systeme noch dauern. Zunehmend werden wir derartige Anwendungen so selbstverständlich nutzen wie die intelligenten Systeme in unseren Smartphones. Wie erläutert, war Outsourcing von Aufgaben bereits vor der Entwicklung von KI-Tools möglich. Der einzige Unterschied besteht nun darin, dass der Auftraggeber auswählen kann, ob er einen Dienstleister wählt, der KI-unterstützt arbeitet oder eben nicht. Insofern ändert sich also am Workflow nicht so wahnsinnig viel. Der klassische Ablauf bleibt in seinen Elementen bestehen, kann aber mehr und mehr KI-basiert abgewickelt werden.
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Autor: Marco Deubler, Leiter KI-Implementierung, ISAS GmbH
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