Abwasserableitung im freien Fall

Bei einem Vortrieb in Luxemburg führte der kürzeste Weg für die neuen Schmutz- und Regenwasserleitungen direkt den Berg hinab. Die 57 % Steigung mit einem Höhenunterschied von 32,7 Meter bedeuteten für einen Rohrvortrieb eine bisher einzigartige Trasse.

Im Großherzogtum Luxemburg werden neue Gebäude um das nationale Gesundheitszentrum Centre Hospitalier de Luxembourg (CHL) errichtet. Für den auf einem Hochplateau gelegenen Gebäudekomplex musste eine neue Trasse zur Ableitung von Schmutz- und Regenwasser gefunden werden. Da in den Straßen zum CHL kein Platz für neue Leitungstrassen vorhanden war, wurde der kürzeste Weg den Berg hinab ins Tal für die Leitungen gewählt und die Kanäle in einer bisher einzigartigen Vortriebstrasse mit 57% Steigung mit einem Höhenunterschied von 32,7 m geplant.

Der Bauherr, die luxemburgische Administration des Bâtiments Publics, die Behörde für öffentliche Bauten, beauftragte das Planungsbüro BEST, Bureau d‘Etudes et de Services Techniques aus Senningerberg unter anderem mit der anspruchsvollen Planung der Entwässerung für das Großprojekt. Es wurde die Idee entwickelt, den engen Straßenraum zu umgehen und den kürzesten Weg zu einem bestehenden Mischwassersammler in der Rue de Rollingergrund ins Auge zu fassen. Dazu mussten auf nur etwa 60 m Entfernung über 30 Höhenmeter überwunden werden. Die Trasse führt dabei durch einen staatlich geschützten Stadtwald, der sich auf dem steilen Hang entwickelt hat. Zur Ausführung der ambitionierten Kanaltrasse kam also nur ein Rohrvortrieb in Frage.

Für die Planung des Rohrvortriebes wurde das Bochumer Ingenieurbüro Stein Ingenieure GmbH verpflichtet. Im April 2018 fand das erste Treffen an den Standorten der Start- und Zielbaugruben statt, um die Plan- und Machbarkeit eines solchen Rohrvortriebs zu erörtern.

Steilvortrieb in Luxemburg: Abwasserableitung im freien Fall
Das Bedienelement der Rohrbremse musste einfach und klar strukturiert sein. | Foto: ILM Tunneltechnik GmbH

Komplexe Geologie

Im Dezember 2018 wurde eine Ausführungsplanung ausgeschrieben, die alle Besonderheiten und speziellen Herausforderungen für die beiden Schmutz- und Regenwasserkanäle berücksichtigte: zwei parallel aus einer Startbaugrube mit um knapp 28° geneigter Baugrubensohle zu erstellende Microtunneling Abschnitte DN 600 mit einem zu überwindenden Höhenunterschied von 32,7 m.

Der Vortrieb durchquert den annähernd söhlig gelagerten Luxemburger Sandstein – das heißt, es werden über 30 m Mächtigkeit mit dem Vortrieb durchfahren. Um möglichst die gesamte Bandbreite der Baugrundschichten zu erfassen, wurde auf dem Berg im Bereich der Zielbaugrube eine 45 m lange Schrägbohrung zur Baugrunderkundung veranlasst. Ein Ergebnis dieser Erkundungsbohrung war die Erkenntnis, dass während des Vortriebs bereichsweise mit starken Spülungsverlusten im geklüfteten Fels gerechnet werden muss. Des Weiteren wurde festgestellt, dass sehr mürbe Felsschichten mit geringer einaxialer Druckfestigkeit mit äußerst harten Gesteinsschichten in Wechsellagerung durchfahren werden müssen. Sandige Kluftfüllungen waren ebenfalls zu beachten.

In der Planungsphase galt es zu klären, ob die Ziellaser für die Vortriebssteuerung eine entsprechend große Steigung auf der Zieltafel erfassen können. Eine Nachvermessung der Maschinenposition im Vortriebsstrang ist bei einem Vortrieb DN 600 wegen der nicht vorhandenen Zugänglichkeit nicht möglich.

Die Vortriebseinrichtung mit der Rohrbremse in der geneigten Startbaugrube | Foto: Stein Ingenieure GmbH
Die Vortriebseinrichtung mit der Rohrbremse in der geneigten Startbaugrube | Foto: Stein Ingenieure GmbH

Vortriebs- und Haltekräfte

Zur Berechnung der notwendigen Vortriebskräfte musste berücksichtigt werden, dass die Rohre bei der Steigung von über 50 % maßgeblich in die Höhe geschoben werden und somit ein erhöhter Anteil der Gewichtskraft der Rohre und der Einbauten in die benötigte Vortriebskraft einbezogen werden muss. Auf der anderen Seite ergab sich aus den hangabwärts gerichteten Kräften die Notwendigkeit den Rohrstrang zum Beispiel beim Rohrwechsel sicher zu halten, so dass einerseits das Abrutschen aller oder einzelner Rohre in die Baugrube oder ein Lösen der Rohrverbindungen unbedingt vermieden werden. Dies machte den Einsatz einer Rohrbremse zwingend notwendig.

Die Bemessung der erforderlichen Haltekraft erfolgte unter Einbeziehung der Gewichtskraft der Stahlbetonvortriebsrohre DN 600/DA 960 , der Vortriebsmaschine AVN 800 und der Einbauten im Rohr. Aus der Abtriebskraft des Rohrstrangs errechnete sich unter Berücksichtigung der Sicherheitsfaktoren für den Bauzustand eine erforderliche Haltekraft der Rohrbremse von 45 Tonnen.

Aus den beschriebenen Voraussetzungen ergaben sich sowohl für die Konstruktion der Startbaugrube mit der benötigten Ableitung der Pressenkräfte über das Widerlager, der zusätzlichen Ableitung der erheblichen Haltekräfte aus der Rohrbremse und auch für die Bemessung der Vortriebsrohre besondere Herausforderungen. So musste sichergestellt werden, dass die Haltekräfte nicht nur während der Vortriebsphase, sondern auch bei der anschließenden Schachtherstellung in den Untergrund abgeleitet werden. Für die statische Bemessung der Vortriebsrohre bedeutete dies einen geringen Auflagerwinkel (2 α = 30°) und den Verzicht auf den Ansatz der Silotheorie bzw. eines Seitendruckbeiwertes. So errechnete sich eine relativ geringe zulässige Vortriebskraft von etwa 3.300 kN für die dickwandigen Vortriebsrohre (18 cm bei DN 600).

Insitu-Versuch zur Ermittlung der Haltekraft | Foto: Stein Ingenieure GmbH
Insitu-Versuch zur Ermittlung der Haltekraft | Foto: Stein Ingenieure GmbH

Ausgeschrieben wurde die Rohrbremse System TuSo GmbH, Pulheim (oder gleichwertig). Eine der Kernforderungen in der Ausschreibung war, den Rückbau der Abstützungskonstruktion für die Rohrbremse erst nach der Lagesicherung der jeweils fertiggestellten Rohrstränge über die Schachtbauwerke bzw. den Baugrund zuzulassen. Dies war gleichbedeutend mit einer fest eingebauten bzw. im unteren Teil „verlorenen“ Rohrbremse.

Den Zuschlag erhielt die Universal-Bau S.à.r.l. mit ihrem deutschen Vortriebspartner SaarGrundbau. An der Ausschreibung für die Gesamtmaßnahme beteiligten sich im Februar 2019 insgesamt sechs Baufirmen – für den Rohrvortrieb gaben zwei Firmen Angebote als Subunternehmer ab.

Verpressung des Ringspaltes

Die eingesetzte Rohrbremse bestand aus zwei Bremskammern (Halbschalen), in denen Bremsprofile mit Druckluft an das Vortriebsrohr gepresst werden. Wegen der hohen Abtriebskraft wurden als Sicherheitskonzept zwei zusätzliche Bremskammern mit eingebaut. Für die benötigte zuverlässige und einfache Bedienung der Rohrbremse entwickelte die Firma ILM Tunneltechnik GmbH aus Stolberg eine für die Baustellenpraxis angepasste Steuerung.

Entgegen der Ausschreibungsvariante wurde anstelle der fest eingebauten Rohrbremse ein Konzept entwickelt, mit dem der Rohrstrang rein durch die Verpressung des Ringspaltes zwischen Rohr und anstehendem Fels mit einer ausgehärteten Zementsuspension nach Ausbau der Rohrbremse gehalten wird. Die Nachweisführung stellte für die Beteiligten eine besondere Herausforderung dar.

Von der Start- bis zur Zielbaugrube auf dem Plateau war eine Höhendifferenz von über 30 m zu überwinden. | Foto: Stein Ingenieure GmbH
Von der Start- bis zur Zielbaugrube auf dem Plateau war eine Höhendifferenz von über 30 m zu überwinden. | Foto: Stein Ingenieure GmbH

Im Sinne einer praktikablen Lösung wurde von den Beteiligten ein Insitu-Versuch entwickelt, bei dem die Haltekraft eines Betonzylinders - stellvertretend für den verpressten Rohrstrang im freigeschnittenen Fels - ermittelt werden konnte. Um eine hinreichende Vergleichbarkeit zu erzielen musste dabei berücksichtigt werden, dass während des Vortriebes Bentonit in den Ringspalt eingebracht wird. Dies führt dazu, dass die Mantelreibung zwischen verpresstem Rohrstrang und Fels wesentlich reduziert wird.

Drei Betonzylinder mit einem Außendurchmesser von 104 mm wurden im Bereich der Startbaugrube in Bohrlöcher (L = 6,0 m, D = 147 mm, 20 mm Ringspalt) eingebracht, mit Bentonit beaufschlagt und der Ringspalt anschließend mit Zementmörtel verpresst. Über Zugversuche wurde bis zum Lösen der Betonzylinder eine durchschnittliche Haltekraft (Mantelreibung) zwischen Fels- und Betonoberfläche von 28,24 kN/m² ermittelt, also lediglich 7 % der ursprünglich angesetzten Mantelreibung von 400 kN/m2.

Anhand dieses Wertes und unter Berücksichtigung der erforderlichen Sicherheitsfaktoren errechnete der verantwortliche Statiker Dr.-Ing. Dietmar Beckmann (Stein Ingenieure) eine Haltestrecke von mindestens 7,80 m, auf welcher der Ringspalt vollständig mit Zementsuspension gefüllt sein muss, um den Rohrstrang dauerhaft im Fels zu verankern.

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Die beiden parallelen Steilvortriebe wurden im Zeitraum November 2020 bis Februar 2021 abgeschlossen und damit die couragierte und herausfordernde Vortriebsplanung zum Erfolg geführt.


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