Die Energiewende stand im Rampenlicht der 30. Tagung Leitungsbau, zu der der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie (HDB) und der Rohrleitungsbauverband (rbv) rund 200 Teilnehmer Ende Januar 2024 in Berlin begrüßen konnten. Nützliche Infos in Sachen Cybersicherheit, Fachkräftegewinnung und Ersatzbaustoffverordnung rundeten die Veranstaltung ab.
„Wir stehen heute vor einer außergewöhnlichen Transformation. Sie ist gekennzeichnet durch den demografischen Wandel, die Dekarbonisierung und natürlich durch die Digitalisierung“, so rbv-Präsident Dr. Ralph Donath. Deutschland sei gerade bei der Dekarbonisierung, bedingt durch den Krieg in der Ukraine, besonders betroffen, da die Grundidee, die Energiewende auf der Brückentechnologie Gas durchzuführen, unter anderem infolge unkalkulierbarer Preissteigerungen einen ernst zu nehmenden Dämpfer erhalten habe. Aktuell sei die Talsohle offensichtlich durchschritten, so Donaths Hoffnung und Prognose. „Die Aussichten für dieses und für das nächste Jahr erscheinen mit Hinblick auf die Wachstumsraten deutlich besser.“ Nun aber sei der Leitungsbau in Bezug auf die Anforderungen der Energiewende mit außergewöhnlichen Herausforderungen konfrontiert. „Schon heute merken wir, dass in allen Sektoren und Energiebereichen besondere Aufgaben auf uns warten, die uns in den kommenden Jahren, vielleicht sogar Jahrzehnten beschäftigen werden. Es ist meine feste Überzeugung, dass gerade die Tagung Leitungsbau ein unverzichtbarer Baustein bleiben wird, um uns über die für uns wichtigen Entwicklungsthemen auszutauschen. Gehen wir nun also all-in to Energiewende“, so Donath.
Wir brauchen eine Molekülwende
In 30 Jahren habe die Tagung Leitungsbau schon auf so manch eine schwierige Entwicklung geblickt, sagte rbv-Hauptgeschäftsführer Dieter Hesselmann. Aber solche Disruptionen und Herausforderungen, vor denen unsere Gesellschaft heute stehe, wären bislang noch nicht dabei gewesen. „Der Netzausbau zählt zu den Mammutaufgaben der Energiewende, die keinen Aufschub dulden und auf welche die Politik und unsere Gesellschaft eine Antwort finden müssen“, unterstrich Hesselmann. Vor allem bei der Elektromobilität und der Modernisierung der Wärmeversorgung brauche es sichtbare Fortschritte. Neben erneuerbarem Strom seien nun grüne Moleküle als klimaschonende gasförmige Energieträger in großen Mengen erforderlich, um die ambitionierten Klimaziele zu stemmen. „Zusätzlich zur Stromwende ist nun auch eine Molekülwende erforderlich!“
Für all das seien in allen Bereichen Milliardeninvestitionen notwendig. Allein in das Stromübertragungsnetz müssten bis zum Jahr 2045 310 Milliarden Euro investiert werden, in das Wasserstoffkernnetz seien bis 2032 Investitionen von 20 Milliarden Euro notwendig. Leider seien Anspruch und Wirklichkeit aktuell aber Lichtjahre voneinander entfernt. „Die Entwicklung beim Netzausbau ist seit langem ein ernstes Warnsignal für den Fortschritt der gesamten Energiewende. Denn ohne ausreichende Netzinfrastruktur kann die grüne Energie nicht beim Endverbraucher ankommen. Es liegt folglich in vielen Ebenen noch ein langer Weg vor uns“, lautete Hesselmanns Ausblick auf die kommenden Bauaufgaben und auf die Agenda der 30. Tagung Leitungsbau.
Strukturelles Umdenken
Einen ersten inspirierenden Auftakt zur Jubiläumstagung bot das „Branchen- und Transformationsbarometer“ des HDB mit einer erfrischenden Standortbestimmung. „Es lohnt sich, mit Optimismus auf das Jahr 2024 zu blicken“, meinte HDB-Hauptgeschäftsführer Tim-Oliver Müller in seiner Key-Note am ersten Veranstaltungstag. Denn wer solle die in großer Vielzahl politisch propagierten Wenden allesamt bauen, wenn nicht die im Bauhauptgewerbe und hier in besonderem Maße die im Tief- und Leitungsbau tätigen Unternehmen? Gerade im Tiefbau sowie im öffentlichen Infrastrukturbau seien aktuell steigende Investitionsbudgets zu beobachten. Und dies zurecht: „Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Urbanistik herrscht aktuell ein Investitionsstau im Bereich Straße, Schiene, Brücke, ÖPNV, 5G-Technologie und den Erfordernissen im Kontext der Mobilität von 372 Milliarden Euro.“ Der Blick aufs Geld sei aber nur eine Seite der Medaille, auf die sich ein zukunftsfähiges Engagement von Verbänden konzentrieren müsse. Ganz wichtig sei es, Strukturen zu schaffen, die keine riesigen Investitionen benötigen. „Deswegen wird einer unserer Schwerpunkte in diesem Jahr insbesondere sein, dass wir versuchen, eine neue Baupolitik zu machen, in der wir nicht immer nur mehr Geld fordern, sondern wirklich den Finger in die Wunde legen wirklich den Finger in die Wunde legen, wo immer Strukturreformen notwendig sind“, so Müller.
Gemeinsam hätten der HDB und der rbv bereits klare Kante bezogen und Positionen rund um Themen wie Breitbandausbau, Wärmewende, Geothermie oder weitere wichtige Branchenthemen vorgetragen. „Aber wir machen das nicht mehr leise! Faktenbasiert und substanziell sagen wir, was wir konkret meinen!“ Darüber hinaus forderte Müller einen konstruktiven Dialog aller Beteiligten und mehr Verlässlichkeit und Technologieoffenheit vonseiten der Politik, um allen Herausforderungen unserer Tage zielgerichtet zu begegnen.
Und dass eben diese Herausforderungen sehr wesentlich in einer realitäts- und zukunftsfähigen Umsetzung der Energiewende liegen, wurde nicht zuletzt in dem Vortrag „Energiewende in Deutschland – ein Statusbericht“ von Dr. Andreas Nolde, Büro für Energiewirtschaft und technische Planung GmbH (BET), nochmals pointiert. „Wo wollen wir hin mit der Energiewende und welche Aufgaben haben wir in diesem Zusammenhang?“, lauteten einige der Leitgedanken Noldes. Dabei betonte der Energiemanager, dass die Energiewende alle Netzinfrastrukturen – im Kontext der Wärmewende auch die Rohrleitungsnetze – vor große Herausforderungen stelle, wenn es gelingen solle, die Klimaneutralität bis zum Jahr 2045 zu erreichen. Obwohl Erdgas heute der dominierende Energieträger für die Beheizung von Wohnungen und Wohngebäuden sei, würden aktuelle Energiesystem-Studien von deutlich rückläufigen Erd- und Biogasabsätzen ausgehen. „Mit Blick auf die Transformation des Energiesystems in Deutschland arbeiten wir aktuell mit starken Unsicherheiten“, so Nolde. Im Spannungsfeld zwischen den Zielkoordinaten „Elektrifizierung“ und dem Einsatz „grüner Gase“ würden sich zwei deutlich voneinander abweichende Entwicklungspfade ergeben, die für die Gasinfrastruktur ein hohes Maß an Unsicherheit generieren würden. Dies impliziere viele komplexe Überlegungen und Entscheidungen. Nolde betonte jedoch, dass es deshalb wichtiger denn je sei, eine spartenübergreifende, zukünftig verstärkt regional abgestimmte Netzentwicklungsstrategie mit Berücksichtigung der Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Sparten zu erstellen. Und damit sei einem Faktum unumstößlich Rechnung getragen: Der Energietransport ist auch zukünftig auf ein weitverteiltes Leitungsnetz angewiesen. Um dieses zu bauen und zu erhalten, benötigt die Branche ausreichend Fachkräfte. Deshalb lautete ein Appell Noldes an das Auditorium, kein Personal im Tiefbau abzubauen.
Moleküle transportieren und verteilen
Welche Chancen bietet grüner Wasserstoff in Bezug auf die Dekarbonisierung des Energiesystems hierzulande und wie steht es um die H2-Readiness des Netzes auf der Transport- und Verteilnetzebene? Interessante Einblicke zu diesen Aspekten gaben Dr. Dirk Flandrich, Gascade Gastransport GmbH, und Florian Feller, H2vorOrt, in ihren Vorträgen. Aktuell befinde sich ein Wasserstoff-Kernnetz mit einer Länge von 9.721 Kilometern in der Planung, so Flandrich. 5.630 Kilometer des bereits bestehenden Netzes (58 %) müssten hierfür umgestellt werden, 3.835 Kilometer entfielen auf einen Neubau (39 %), weitere 256 Kilometer beträfen einen kostenintensiveren Offshore-Neubau (3 %). Ziel der Bundesregierung mit diesen „Wasserstoffautobahnen“ sei ein schneller und kosteneffizienter Aufbau der Wasserstoff-Netzinfrastruktur in Deutschland, die mit dem Wasserstoffmarkt bedarfsgerecht wachsen könne und in den EU-Binnenmarkt eingebettet sei. „Es ist deutlich günstiger, Wasserstoff zu transportieren, als die Stromnetze für die geforderten Leistungen auszubauen“, lautete eine Kernthese Flandrichs. Zudem könne Wasserstoff – im Gegensatz zum Strom – in großem Stil auch saisonal gespeichert werden. Eine besondere Herausforderung liege aber aktuell darin, Wasserstoff unter Nutzung der vorhandenen Transportkapazitäten schnell zum Fliegen zu bringen und dabei gleichzeitig den aktuell noch notwendigen Erdgastransport sicherzustellen. Dies erfordere eine partnerschaftliche Interaktion der einzelnen Fernleitungsnetzbetreiber.