Kanalsanierung im Schwarzwald: Substanz erhalten, Vermögen schützen
Bürgermeister Stefan Hattenbach (rechts) und der Leiter des Bauamtes der Gemeinde, Paul Huber. | Foto: Roland Spether, Sasbach
„Wir wollen auf belastbaren und nachvollziehbaren Entscheidungsgrundlagen generationengerecht wirtschaften“, sagt Stefan Hattenbach. Er ist 33 Jahre alt und seit fünf Jahren Bürgermeister in Kappelrodeck. Nach dem Studium an der Hochschule für öffentliche Verwaltung war er zunächst Stadtkämmerer in der 12.000-Einwohnerkommune Ettenheim, bevor er 2009 mit einem Stimmenanteil von über 65 Prozent die direkte Wahl zum Bürgermeister gewinnen konnte. Hattenbach gehört damit in die Riege junger Verwaltungsfachleute, die in den zurück liegenden Jahren in dieses kommunale Spitzenamt gewählt wurden. Damit ist er in Baden Württemberg kein Einzelfall. „Wir haben hier im Ortenaukreis sogar einen Kreis der jungen Bürgermeister, die sich regelmäßig treffen und austauschen“, so Hattenbach.

Der größte Vermögenswert: Die Entwässerungsanlagen

Kappelrodeck ist landschaftlich reizvoll an den Ausläufern des Schwarzwaldes hin zum Rheintal gelegen. Die Gemeinde besteht auf 17 Quadratkilometern Fläche aus den beiden Ortsteilen, Kappelrodeck und Waldulm. Für die knapp 6.000 Einwohner spielt der Anbau von Wein und Obst eine wichtige wirtschaftliche Rolle. Die Rotweine und die Obstbrände aus Kappelrodeck genießen weit über die Grenzen der Region hinaus einen ausgezeichneten Ruf. Darüber hinaus sorgen ein Zulieferbetrieb für die Automobilindustrie und ein Hersteller für Spezialpapiere für rund 280 industrielle Arbeitsplätze.

Zur Infrastruktur gehören drei Kindergärten mit 250 Kindergartenplätzen, zwei Grundschulen, eine Werk-Realschule und eine Realschule. Hinzu kommen kulturelle Einrichtungen, Sportanlagen, Vereinshäuser, ein beheiztes Schwimmbad: Alles in allem ein breites und umfangreiches Spektrum an Aufgaben, mit denen sich der Bürgermeister zu beschäftigen hat. Aufgaben zudem, die im Fokus der Wahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger liegen.

Stefan Hattenbach hat jedoch auch die verborgenen Vermögenswerte der Gemeinde unter der Erde im Blick. 53 Kilometer ist das Kappelrodecker Kanalnetz lang, „ohne die Anschlussleitungen im öffentlichen Raum“, wie Hattenbach betont. Dabei überwiegen die kleinen Durchmesser bis DN 600. In den 60er Jahren war mit dem Bau des Netzes begonnen worden. Der Ausbau erfolgte in unregelmäßigen Abschnitten, orientiert an der baulichen Ortsentwicklung. „Von einer kontinuierlichen Netzentwicklung können wir in Kappelrodeck nicht sprechen“, sagt Markus Vogel von der ortsansässigen Ingenieurgesellschaft Vogel Ingenieure. Mit einem Wiederbeschaffungswert von aktuell 38 Millionen Euro stellen die Entwässerungsanlagen den größten Einzelvermögenswert der Gemeinde dar.

Stefan Hattenbach: „Jede Generation soll so viel reinvestieren, wie sie abnutzt.“ | Foto: bi/zu Eulenburg
Stefan Hattenbach: „Jede Generation soll so viel reinvestieren, wie sie abnutzt.“ | Foto: bi/zu Eulenburg

Strategie statt „Bauchgefühl“

Stefan Hattenbach war sich darüber im Klaren, dass ein großer Teil des Anlagevermögens der Gemeinde in dem Kanalnetz steckt. Ein Vermögen, das es mit den erforderlichen Investitionen in seiner Substanz zu erhalten gilt. Was fehlte, war eine belastbare Entscheidungsgrundlage, auf der diese Investitionen hätten kalkuliert werden können. Deshalb hatte er in den Haushaltsberatungen in diesem Punkt immer ein ungutes Gefühl. „Während wir bei viel kleineren Posten im Haushalt in der Diskussion an Fakten und Konzepten orientieren konnten, musste ich mich bei dem für unsere Verhältnisse richtig großen Budget für die Kanalsanierung überwiegend auf mein Bauchgefühl verlassen“, so Hattenbach. „Wenn unser Bauamtsleiter einen Betrag von 500.000 Euro pro Jahr für die Kanalsanierung genannt hat, dann habe ich mich gefragt: Warum gerade diese Summe? Warum sind es nicht 600.000, warum nicht 400.000 Euro? Leben wir mit dem veranschlagten Geld von der Substanz? Oder sanieren wir zu früh und verschenken damit Abnutzungsreserven?“ Da der Bürgermeister weder das eine noch das andere wollte, war eine Entscheidungsgrundlage erforderlich, um den hierfür mittel- und langfristig den erforderlichen Investitionsbedarf zu ermitteln und auf dieser Grundlage eine realistische, transparente und kostendeckende Gebührenkalkulation zu ermöglichen. Dabei sollte als Ziel gelten, die Funktionalität und die Substanz des Kappelrodecker Kanalnetzes zu erhalten. „Wir als Gemeinderat wollten wissen, wie viel Geld wir wann und wo investieren müssen, um dieses Ziel zu erreichen und wie sich das auf die Gebühren auswirkt“, so Hattenbach.

Der Auftrag, im Rahmen einer Sanierungsstrategie die entsprechenden Antworten auf diese Kernfragen zu finden, ging an das Ingenieurbüro Vogel. Hierfür gibt es am Markt unterschiedliche Rechenmodelle, die das Alterungsverhalten von Kanalnetzen prognostizieren. Das Ingenieurbüro Vogel arbeitet mit dem Programm STATUS Kanal, entwickelt von der Prof. Dr.-Ing. Stein & Partner GmbH. „Nach meiner Marktrecherche bin ich zu der Auffassung gelangt, dass hinter diesem Ansatz die zuverlässigste und innovativste Methodik steht“, begründet Markus Vogel seine Kooperation auf diesem Sektor mit Stein & Partner. Das Grundkonzept wurde dem Gemeinderat vorgestellt und erhielt dort die Zustimmung.

Was passiert, wenn…?

„Strategie entwickeln heißt als erstes einmal viele Daten sammeln, analysieren und prüfen, denn um verlässliche Ergebnisse zu erhalten, müssen die Daten schlüssig sein“, so Vogel. Das ist zunächst aufwändig und kostet Zeit. So dauerte es ein viertel Jahr, bis die Altersdaten des Netzes zusammengetragen waren. „Gerade in den kleineren Kommunen sind diese Daten nicht so dokumentiert, dass sie als Bestand einfach zur Verfügung stehen“, erläutert Markus Vogel. Diese Datenerfassung ist deshalb von großer Bedeutung, weil die Sanierungsstrategie mit einer Situationsanalyse des Netzes bezogen auf das Baujahr beginnt. Um in dem relativ kleinen Netz von Kappelrodeck eine repräsentative Datenbasis zu erhalten, wurden etwa 6 Kilometer Kanäle gezielt zur Ergänzung der Inspektionsdaten ausgewählt.

Nachdem diese Arbeit erledigt war, konnte auf der Basis der erhobenen Daten dann das Alterungsverhalten der Kanalisation berechnet werden. Dabei können unterschiedliche Szenarien mit ihren Auswirkungen auf den Zustand des Netzes und auf die Entwicklung der Gebühren betrachtet werden. „Zunächst kann man sich ansehen, was passiert, wenn man nichts tut. Dann kann man die Entwicklung betrachten, die sich einstellen wird, wenn die Gemeinde genau so weiter macht wie bisher“, beschreibt Markus Vogel die Vorgehensweise. Wenn man dann erkennt, dass auf Dauer alterungsbedingt mit einem Funktionsausfall von Teilen der Gesamtanlage zu rechnen ist, dann ist teurer und unter Umständen schwer finanzierbarer Handlungsbedarf vorprogrammiert.

In Kappelrodeck wurde die voraussichtliche Entwicklung zunächst auf die kommenden 50 Jahre hochgerechnet, „wobei wir uns natürlich darüber im Klaren sind: je weiter wir in die Zukunft sehen, desto größer wird die Unsicherheit“, so Vogel. Für den Fall, dass die Gemeinde so weiter verfährt wie bisher, so die Berechnung, passiert in den nächsten Jahren zunächst noch nicht viel, dann jedoch sind sukzessive Netzausfälle zu erwarten, weil nicht ausreichend reinvestiert wird.

Daraufhin wurden mit der Gemeinde noch einmal vertieft Gespräche darüber geführt, welche langfristigen Ziele eine Sanierungsstrategie verfolgen soll. Diese Zieldefinition umfasste zwei Aspekte. Zum einen den Substanzerhalt. „Wir wollen in Kappelrodeck keinen Werteverzehr zu Lasten kommender Generationen betreiben“, betont Bürgermeister Hattenbach den Gedanken intergenerativer Gerechtigkeit. Zum anderen soll und muss das Kanalnetz den wasserrechtlichen Anforderungen entsprechen.

Markus Vogel: „Wenn einmal die erforderlichen Daten erfasst sind, können wir mit relativ geringem Aufwand unterschiedliche Handlungsszenarien mit ihren Auswirkungen auf den Netzzustand und die Abwassergebühren berechnen.“ | Foto: bi/zu Eulenburg
Markus Vogel: „Wenn einmal die erforderlichen Daten erfasst sind, können wir mit relativ geringem Aufwand unterschiedliche Handlungsszenarien mit ihren Auswirkungen auf den Netzzustand und die Abwassergebühren berechnen.“ | Foto: bi/zu Eulenburg

Interdisziplinärer Dialog

Auf dieser Grundlage wurden zwei Sanierungsstrategien erarbeitet. Strategie 1 sieht bis 2027 ein jährliches Sanierungsbudget auf dem derzeitigen Niveau von rund 500.000 Euro vor und dann einen stufenweisen Anstieg auf 1,2 Millionen Euro. Strategie 2 enthält bereits jetzt einen Anstieg auf 600.000 Euro und eine Erhöhung ab 2034 auf 940.000 Euro pro Jahr. Beide Strategien beinhalten mittelfristig ein umschichten von der Erneuerung hin zur Renovierung und ermöglichen so, mit dem gleichen Mitteleinsatz längere Strecken abzuarbeiten.

Das Entwickeln dieser Sanierungsstrategien fand in einem intensiven Dialog zwischen Ingenieurbüro und der Gemeinde statt. „Das war ein interaktiver und interdisziplinärer Prozess“, erinnert sich Stefan Hattenbach. „Hier spielten neben den technischen Aspekten kommunalrechtliche Faktoren wie das kommunale Abgabegesetz eine Rolle, betriebswirtschaftliche Aspekte, kommunalpolitische bis hin zu ortshistorischen Randbedingungen waren in diesen Diskussionen zu berücksichtigen“, so der Bürgermeister. „Da saß der Kämmerer genauso mit am Tisch wie der Bauamtsleiter, Bürgermeister und Ingenieurbüro“, ergänzt Markus Vogel. „Durch diesen Dialog der unterschiedlichen Disziplinen wächst auch das Verständnis füreinander und das gefundene Ergebnis steht auf einem breiten und stabilen Fundament.“

Von großem Interesse war natürlich die Frage: Wie wirkt sich die Umsetzung der Sanierungsstrategie auf die Entwicklung der Abwassergebühren aus? Bürgermeister Hattenbach war überrascht, wie moderat der Anstieg über die Jahre hinweg ausfällt. „Das liegt annähernd im Rahmen einer angenommenen Inflationsrate von 2 Prozent.“

Heute liegt die Schmutzwassergebühr in Kappelrodeck bei 2,45 Euro pro Kubikmeter. Bezogen auf die kommenden 10 Jahre würde es bei der „Weiter so“-Strategie zu einem Anstieg auf 2,90 Euro kommen, bei Strategie 1 erhöhen sich die Gebühren in diesem Zeitraum auf 3,00 Euro und Strategie 2 würde in den kommenden 10 Jahren zu einem nahezu kontinuierlichen Anstieg auf 3,15 Euro führen. „Das bedeutet in 10 Jahren eine Mehrbelastung von 2,60 Euro pro Kopf und Monat gegenüber heute“, rechnet Markus Vogel. Diesen Berechnungen liegt eine Abschreibungszeit der investiven Maßnahmen von 50 Jahren zugrunde.

Transparenter Kurs

Kappelrodeck hat sich zunächst für die Strategie 1 entschieden. „Beide Substanzstrategien wirken in den kommenden 10 Jahren relativ ähnlich und zeigen erst dann unterschiedliche Entwicklungen auf. Da lag es für den Gemeinderat nahe zu sagen: wir entscheiden uns für die Variante 1 und stellen diese Entscheidung in 10 Jahren mit den bis dahin gewonnen Erfahrungen und Erkenntnissen noch einmal auf den Prüfstand“, begründet Stefan Hattenbach. „Der Datenbestand wird in den nächsten 10 Jahren noch ergänzt, beispielweise um die Anschlussleitungen und wir sind dann mit den zusätzlich gewonnen Daten in der Lage, noch präziser in die Zukunft zu schauen.“

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Am Ende einer Strategieentwicklung für eine Netzgröße wie in Kappelrodeck stehen etwa 2.000 Excel-Seiten, auf denen für jede Haltung bis ins Jahr 2059 prognostiziert wird, an welcher Stelle zu welchem Zeitpunkt welche Intervention notwendig wird, mit welchem Kostenaufwand, bei welcher Abschreibung, und mit welchem Restbuchwert welcher Vermögenswert vorhanden ist. „Die Details dieser Strategie sind natürlich nicht in Stein gemeißelt. Wir halten uns eine an der Praxis orientierte Flexibilität offen und werden auf Basis der Strategie theoretisch vorgesehene Maßnahmen in jedem Einzelfall an der ingenieurtechnischen Notwendigkeit ausrichten“, so Markus Vogel. Der Kurs ist jedoch gemäß den von der Politik formulierten Zielen vorgezeichnet und transparent nachvollziehbar. „Wir wissen jetzt, dass wir das Geld genau an der richtigen Stelle zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen Höhe ausgeben. Das ist nicht nur Gebühreneffizient sondern auch argumentativ der Öffentlichkeit vermittelbar“, so das positive Fazit des Bürgermeisters.


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