„Wir folgen dem humboldtschen Prinzip des lebenslangen Lernens“
Der Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf hat es geschafft, die Goldstufe des „StadtGrün naturnah“-Labels zu erreichen. Doch was bedeutet diese Auszeichnung für das Grünflächenamt, und wie lassen sich Biodiversität und städtische Nutzung erfolgreich vereinen? Im exklusiven Interview verrät Jochen Flenker, Fachbereichsleiter Grünflächen beim Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf von Berlin, welche Herausforderungen ein solcher Ansatz in einer Millionenstadt wie Berlin mit sich bringt, wie Schafe zur Pflege von Sportplätzen beitragen und warum Bürgerbeteiligung der Schlüssel zum Erfolg ist.
Herzlichen Glückwunsch zur Goldstufe des „StadtGrün naturnah“-Labels! Was bedeutet diese Auszeichnung für das Grünflächenamt und die Gemeinde Charlottenburg-Wilmersdorf?
Vielen Dank! Für uns als Innenstadtbezirk hat diese Auszeichnung einen ganz besonderen Stellenwert. In einer Millionenstadt wie Berlin hochwertige ökologische Flächenpflege erfolgreich umzusetzen ist keine Selbstverständlichkeit. Umso schöner, dass unsere jahrelangen Bemühungen auch im bundesweiten Vergleich als herausragend bewertet wurden. Ich möchte mich an dieser Stelle bei all meinen 180 Kolleginnen und Kollegen aus dem Fachbereich Grünflächen bedanken. Ohne sie wären die preisgekrönten Pflegemaßnahmen nicht möglich gewesen!
Wie hat sich Ihr Pflegeansatz bei Rasen- und Wiesenflächen in den letzten Jahren verändert, und welche Maßnahmen waren besonders erfolgreich?
In Charlottenburg-Wilmersdorf erfolgt seit Jahren ein naturnahes und insektenfreundliches Grünflächenmanagement in Abstimmung mit dem bezirklichen Umwelt- und Naturschutzamt. Zur Beratung wird überdies seit einigen Jahren ein externer Biodiversitätsbeauftragter hinzugezogen sowie die Deutsche Wildtierstiftung. Auf allen Flächen wird nur Regiosaatgut eingesetzt und zukünftig soll selber Saatgut geerntet werden. Die Rasen- und Wiesenpflege erfolgt grundsätzlich extensiv. Das Mahdgut wird ebenso grundsätzlich abgefahren, durch den Auftragnehmer entsorgt oder in der Bezirksbaumschule kompostiert. Eine Beweidung mit Schafen erfolgt derzeit im Stadion von Wilmersdorf und soll auf weitere Flächen ausgedehnt werden. Hervorzuheben ist zudem das Projekt Volkspark Jungfernheide, bei dem Pflanzenkohle auf der Fläche eingearbeitet wurde um die Resilienz sowie Artenvielfalt zu fördern. Herausragend ist auch die Initialpflanzungen mit selbstgezogenen, heimischen Wiesenstauden auf verschiedenen Grünflächen. Wir nehmen regelmäßig am Nomowmay teil und stellen künftig den Fuhrpark auf biodiversitätsfreundlichere Maschinen um. Auch soll Technik zum Sammeln von Saatgut angeschafft werden.
Wie reagiert die Bevölkerung auf den naturnahen Ansatz? Gibt es Rückmeldungen, die Sie überrascht haben?
Ihr Fachbereich verwendet ausschließlich Regiosaatgut. Welche Vorteile bringt dies für die Biodiversität und Resilienz der Grünflächen im Bezirk?
Im Kern geht es um den Verlust der Artenvielfalt. Um Tiere, Pflanzen und Pilze. Das passiert an jedem Ort der Welt. Somit muss man auch an jedem Ort der Welt die Arten wieder ansiedeln, die dort verschwinden. Zwar gibt es einige Arten in ganz Europa, aber diese sind an die unterschiedlichen Regionen genetisch angepasst. Daher ist es wichtig diese genetische Varianz zu erhalten. Das geschieht durch das Verwenden von Regiosaatgut, das bedeutet standortheimisches bzw. autochthones Saatgut.
Sie planen, künftig eigenes Saatgut zu gewinnen. Können Sie uns mehr über dieses Projekt erzählen und wie es die Grünflächenpflege langfristig verändern könnte?
Der Markt für Regiosaatgut ist noch immer begrenzt. Viele Arten können zudem nur schwer in Kultur genommen werden, um dann wiederum Saatgut zu ernten. Aus diesem Grund stellen wir Überlegungen an, wie man besonders artenreiche Flächen als Spenderflächen identifizieren kann und dann das Saatgut entweder erntet oder das Schnittgut gezielt auf andere Flächen überträgt. Dadurch vermehren wir automatisch standortheimisches Saatgut und können verarmte Flächen wieder bereichern. Für diese Maßnahmen muss der Maschinenbestand entsprechend erweitert werden.
Im Volkspark Jungfernheide setzen Sie Pflanzenkohle ein, um die Resilienz und Artenvielfalt zu steigern. Welche Ergebnisse konnten Sie bereits beobachten, und was erhoffen Sie sich langfristig von dieser Maßnahme?
Ehrlicherweise sieht man aktuell nur eine saftig grüne Wiese, denn der diesjährige Sommer fiel in Berlin verhältnismäßig feucht aus. Der Stresstest für die Wiese steht also noch aus. Es fällt jedoch auf, dass die Zusammensetzung der Gräser gegenüber nicht überarbeiteten Wiesenflächen deutlich artenreicher ist. Die Pflanzenkohle soll aufgrund ihrer Struktur wie ein Schwamm wirken. Dadurch wird mehr Wasser gespeichert und der Rasen kann über einen längeren Zeitraum ohne Regen auskommen. Dennoch handelt es sich um ein großes Versuchsfeld. Pflanzenkohle wurde bislang in dieser Größenordnung in keiner öffentlichen Grünfläche verarbeitet. Wir sind daher sehr gespannt, ob sich unser Versuchsansatz in trockenen Jahren bewährt, da wir keine Bewässerung für die rund drei Hektar große Wiese vorhalten.
Im Stadion Wilmersdorf helfen Gotlandschafe bei der Pflege der Grünflächen. Wie wurde diese Methode eingeführt, aufgenommen und welche Vorteile bietet der Einsatz von Weidetieren gegenüber konventioneller Pflege?
Ein wirklich spannendes Projekt! Es geht auf die Initiative unseres Umwelt- und Naturschutzamtes und unserem zuständigen Kollegen für die Sportplatzpflege zurück. Auf dem Gelände rund um das Horst-Dohm-Eisstadion und das Stadion Wilmersdorf gibt es Bereiche, die nicht direkt für die Ausübung von Sport genutzt werden. Diese bergen ein bisher ungenutztes Potenzial für eine Aufwertung im Sinne des Naturschutzes. Begonnen wurde im Winter 2019/2020 mit der Einbringung von Frühblühern an der Oberkante des Hangs. Darüber hinaus entwickelte sich die Idee, die brachgefallenen Tribünenbereiche am Wilmersdorfer Stadion durch eine Beweidung mit Schafen zu pflegen. Die ehemaligen untergenutzten Zuschauertribünen wurden bereits 2005 entfernt und begrünt. An den Hängen hat sich neben dem damals gepflanzten wilden Wein ein starker Gehölzaufwuchs überwiegend bestehend aus Eschenahorn und Gartenbrombeere ausgebreitet, der regelmäßig geschnitten werden muss. Diese zählen zu den sogenannten „invasiven Arten“, die dichte und artenarme Bestände bilden. Im Rahmen eines Beweidungsprojekts soll der Gehölzaufwuchs daher nachhaltig zurückgedrängt werden, um eine Entwicklung der Flächen in ein artenreiches Grünland zu ermöglichen. Schafbeweidung wirkt sich in mehrfacher Hinsicht auf die Artenvielfalt aus. Zum einen bewirkt sie Standortvielfalt, indem sie eine typische mosaikartige Biotopstruktur entstehen lässt: Manche Bereiche werden mehr, andere wenig stark abgefressen, und durch Tritt oder Lagern können offene Bodenstellen entstehen. Dort, wo Schafe etwas fallen lassen, erfolgt punktuell ein Nährstoffeintrag, insgesamt aber eher ein Nährstoffentzug. Dieser ermöglicht die Ansiedlung von Arten, die bei hohem Nährstoffgehalt nicht konkurrenzfähig sind. Zum anderen fressen Schafe selektiv: giftige oder bitter schmeckende Arten werden von Schafen verschont (z. B. die Zypressen-Wolfsmilch oder der Sandthymian). Auch Pflanzenarten mit Dornen oder Stacheln (z. B. Distelarten oder die Dornige Hauhechel) werden von den Schafen gemieden. Und wieder andere Arten bilden tief am Boden anliegende Rosetten (z. B. der Mittlere Wegerich), die vom Maul der Schafe nicht erfasst werden. Dafür sorgen die Schafe durch den Verbiss der angrenzenden Vegetation, dass die Rosettenblätter ausreichend Licht erhalten. Arten, die gegen Verbiss geschützt sind, werden durch die Beweidung gefördert. Mehr Infos und ein Film aus dem letzten Jahr gibt es hier.
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Sie verteilen die in der Gärtnerei gezüchteten Pflanzen an andere Bezirke, Vereine und Schulen. Wie ist die Resonanz, und wie fördern Sie den Wissenstransfer in der Region?
Unsere Bezirksgärtnerei wird regelmäßig von Fachkolleginnen und Fachkollegen aus dem deutschsprachigen Raum besucht. Sogar der Agrarminister schaute schon vorbei. Das Interesse an der Produktion von heimischen Wildstauden ist sehr groß. Aufgrund der strengen Vorschriften, was die Ausbringung von gebietsheimischen Pflanzen angeht, besteht ein großer Bedarf an solchen Pflanzen. Für Wildstauden können wir nur für unsere Region produzieren. Viele Entsiegelungs- und Renaturierungsprojekte werden hierdurch ermöglicht. Immer mehr Berliner Bezirke bestellen bei uns. Durch die Abgabe an Vereine, Schulen und Bürgerinitiativen erhöhen wir das Wissen und die Akzeptanz von Wildstauden in Berlin. Aktuell experimentieren wir mit Mischbepflanzungen aus Wild- und Schmuckstauden u.a. in Gartendenkmälern. Am Rüdesheimer Platz kann man gut erkennen, das naturnahe Grünpflege auch auf Schmuckplätzen funktioniert.
Welche Herausforderungen sehen Sie bei der Pflege von Grünflächen in einem stark urbanisierten Bezirk wie Charlottenburg-Wilmersdorf?
Die partizipative Bürgerbeteiligung bei der Um- und Neugestaltung des Preußenparks ist ein Vorzeigemodell. Wie wichtig ist es, die Bürger in solche Projekte einzubeziehen, und wie gelingt es Ihnen, eine breite Beteiligung sicherzustellen?
Ohne die Zustimmung der Bevölkerung sind große Bauvorhaben, wie etwa die klimagerechte Neugestaltung des Preußenparks oder auch der Bau des Mierendorff Rundweges, gar nicht mehr möglich. Bürgerbeteiligung kostet Zeit, Geld und auch Nerven, lohnt sich aber aus vielfacher Hinsicht! Eine breite Zustimmung hilft uns auch in späteren Jahren die Maßnahmen zu rechtfertigen. Dabei müssen die getroffenen Maßnahmen nicht mal zu 100 Prozent in unserem Sinne sein. Das Verständnis für unsere Arbeit und der Respekt gegenüber den Grünflächen steigt durch Bürgerbeteiligung. Das Gefühl „es geht hier um meinen Park“ trägt langfristig zum Erhalt bei. In Charlottenburg-Wilmersdorf haben wir eine sehr aktive Einwohnerschaft, die sich sehr für einen lebenswerten Bezirk engagiert. Sie bringen sich auch bei kleinen Maßnahmen, wie etwa Baumscheibenbegrünungen oder der Installation von Regenwassertonnen, konstruktiv ein. Auf der Mierendorff Insel existiert sogar mit der Dorfwerkstadt ein bundesweit ausgezeichnetes Bürgerbeteiligungsformat.
Wie überwachen und dokumentieren Sie den Erfolg der eingeführten naturnahen Maßnahmen, und welche Indikatoren sind für Sie besonders wichtig?
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