Zwischen Neubau und Bestand weitet sich die soziale Schere

400.000 Wohnungen und 100.000 Sozialwohnungen sollen jährlich gebaut werden. Von den beiden Zahlen im Koalitionsvertrag ist die letztere die viel Wichtigere, meint Dietmar Walberg. Der streitbare Leiter der ARGE Kiel warnt vor einem kaum lösbaren Dilemma zwischen energetischer Sanierung und bezahlbarem Wohnraum.

Wohnungsbau: Soziale Schere zwischen Neubau und Bestand weitet sich
Ein großer Teil der rund 19 Millionen Wohnungen in Deutschland wurden vor 1977 gebaut wie dieser Wohnblock in Kiel Mettenhof. Die energetischen Defizite sind zum Teil gravierend. | Foto: B_I/Benno Stahn

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Bei der Diskussion um das Erreichen des Klimaziels wird nach Auffassung der Arbeitsgemeinschaft für zeitgemäßes Bauen (ARGE) in Kiel das Bestandspotenzial von Wohngebäuden unzureichend berücksichtigt. Von den rund 19,2 Millionen Wohngebäuden in Deutschland wurden etwa 60 Prozent bereits vor der Einführung der ersten Wärmeschutzverordnung im Jahr 1977 erbaut. Die energetischen und die substanziellen Defizite seien teilweise gravierend, so Dietmar Walberg, Leiter der ARGE in Kiel.

Auf dem diesjährigen Wohnungsbautag stellte Walberg den Bauforschungsbericht „Wohnungsbau – die Zukunft des Bestandes“ vor. Dabei ging es auch darum, die Endlichkeit der Bestandsbauten darzustellen, die einen Grenznutzen erfahren und so problematisch sind, dass sie eher ersetzt gehören. „Wir wollen erreichen, dass der Blickwinkel, wie man an die Wohnungsbestände herangeht, welchen Zustand sie jetzt haben und welche Strategien man in den nächsten Jahrzehnten entwickelt, sich deutlich weitet“, sagt der Wohnungsbauexperte. Natürlich spiele Klimaschutz da eine wichtige Rolle, dürfe aber nicht alle anderen Themen überlagern, so Walberg. Es gebe nämlich noch die Themen Alten- und Altersgerechtigkeit, problematische Baustoffe sowie Überbelegung als eines der gravierendsten sozialen Probleme. Die Kieler Arbeitsgemeinschaft hat errechnet, dass viele Menschen in überbelegten Wohnungen leben, mit zu wenig Individualräumen, Kindern ohne eigenes Kinderzimmer, ohne geschlechtergetrennte Räume für Kinder. Oft mit drei Funktionen in einem Raum: Wohnen, Schlafen, Arbeiten. „Inzwischen betrifft das 8,5 Millionen Menschen, das sind zehn Prozent der Bevölkerung. Und das Problem nimmt gravierend zu. Nun kommt noch das Problem Homeoffice dazu“, so Walberg.

Über 5 Billionen Euro für die Wohnraumsanierung

Die zu erwartenden Kosten bis zum Jahr der Klimaneutralität 2045 sind erheblich. Bei einer Sanierungsrate von jährlich 1,8 Prozent auf das KfW-Effizienzhausniveau 115 würden jährlich 110 bis 150 Milliarden Euro benötigt. Bis zum Jahr 2045 2,6 bis 3,6 Billionen Euro. Legt man KfW-Standard 55 zugrunde, lägen die Beträge bei 165 bis 210 Milliarden Euro jährlich, bis 2045 4,0 bis 5,1 Billionen Euro. Hinzu kommen für die altersgerechte Anpassung von jährlich 170.000 Bestandswohnungen fünf bis zehn Milliarden Euro. Über die Bewältigung dieser Mammut-Aufgaben sprachen wir mit Dietmar Walberg in Kiel.

Dietmar Walberg, Leiter der ARGE in Kiel: „Ein zunehmend größerer Anteil der Bevölkerung kann die Kosten und die Mieten nicht mehr tragen.“ | Foto: ARGE Kiel
Dietmar Walberg, Leiter der ARGE in Kiel: „Ein zunehmend größerer Anteil der Bevölkerung kann die Kosten und die Mieten nicht mehr tragen.“ | Foto: ARGE Kiel

B_I: Herr Walberg, wie beurteilen Sie die Schaffung eines Bundesbauministeriums durch die Ampel-Koalition?

Dietmar Walberg: Es ist absolut wichtig, dass es ein Bauministerium gibt. Das wurde seit Jahren von allen Verbänden wie Bauwirtschaft, Wohnungswirtschaft, Gewerkschaften gefordert. Das ist gut. Leider ist das Ministerium hinsichtlich seiner Handlungsmöglichkeiten geschwächt, weil der ganze Bereich der Förderung, also auch der im Moment so wichtigen energetischen Förderung durch die KfW, jetzt im Wirtschafts- und Klimaschutzministerium angesiedelt ist. Das war ein kluger Schachzug von Wirtschaftsminister Habeck, weil er sich den Zugriff auf das Geld für Förderungen gesichert hat und Bauministerin Klara Geywitz sich Geld für den sozialen Wohnungsbau und für ihre ganzen reinen Bauthemen aus dem Bundeshaushalt erkämpfen muss. Das läuft vermutlich auf eine Zweigleisigkeit hinaus. Der eine fördert Energiethemen, der andere das Soziale. Aus unserer Sicht müssten die wichtigen Förderprogramme beim Bauministerium angesiedelt sein.

B_I: Wie realistisch sind die von der Regierung angekündigten 400.000 Wohnungsneubauten?

Walberg: Es wurden bisher jährlich etwa 325.000 Wohnungen gebaut. Darüber hinaus gibt es einen gigantischen Bauüberhang mit etwa 700.000 Wohnungen. Das sind Genehmigungen, die noch nicht realisiert wurden. Es wäre also durchaus möglich, 400.000 Wohnungen auf einen Schlag zu bauen. Aber – und das war das Ansinnen unserer Wohnungsbaustudie – wir müssen das im Kontext sehen. Und der heißt: ausgereizte Kapazitäten auf allen Ebenen der Bauwirtschaft, der Bauindustrie und der Planenden. Das skizziert die Obergrenze des Machbaren. Also: Mit viel Glück kann man das schaffen. Viel wichtiger ist die Frage, welchen Anteil der soziale Wohnungsbau und der bezahlbare Wohnraum am Gesamtvolumen haben wird. Unter dieser Prämisse ist von den beiden Zahlen im Koalitionsvertrag - 400.000 Wohnungen und 100.000 Sozialwohnungen - die letztere eigentlich die viel Wichtigere.

Wir haben im Jahr 2021 noch nicht einmal zehn Prozent der geschaffenen Wohnungen im Bereich des bezahlbaren Segments geschafft. Es waren genau 27.000 Sozialwohnungen mit Mieten zwischen sechs und sieben Euro und noch weniger im bezahlbaren Segment, also mit Mieten von 8,50 Euro. Das ist außerordentlich wenig angesichts des dramatisch schrumpfenden Anteils an Sozialwohnungen. Da muss einfach mehr passieren. Was nützen uns 400.00 Wohnungen, von denen 90 Prozent bei 14 bis 16 Euro in der Miete bzw. 6.000 bis 7.000 Euro im Erwerb liegen? Diese Wohnungen nützen uns nichts.

B_I: Es wurden schon einmal 700.000 Wohnungen pro Jahr realisiert.

Walberg: Richtig, aber da gab es genügend Planungskapazitäten. Damals wurde auch sehr viel typisiert und standardisiert gebaut. Die Industrie war damals auf diese Situation eingestellt. Viele Produktionsstätten existieren inzwischen nicht mehr.

B_I: Die Bundesbauministerin hat angekündigt, zur Beschleunigung des Wohnungsbaus insbesondere das modulare und serielle Bauen zu forcieren. Könnte das einen Beschleunigungseffekt haben?

Walberg: Keinen, der signifikant als Hebel wirkt. Im Neubau liegt der Anteil von modular oder seriell erstellten Wohnungen bei drei bis sechs Prozent. Der Anteil lässt sich auch nicht erhöhen, weil die Grundstücke das nicht zulassen und wegen der individuellen Bauvorhaben.

Im Bestand wird das serielle oder modulare Bauen bei der Modernisierung einen Teilbeitrag leisten, aber in einer ähnlichen Größenordnung wie beim Neubau. Das hängt damit zusammen, dass die die Bestände nicht mehr homogen genug sind. Es wird ständig um- und angebaut. Das unterscheidet unsere Situation von anderen Ländern. 90 Prozent aller Wohnungen werden vom Baugewerbe erstellt – von Maurern, Zimmerern. Die sind eher nicht seriengeeignet. Dazu ist deren Struktur nicht geeignet. Auch das unterscheidet uns vom Rest der Welt.

B_I: Von Kritikern wird die zu kurze Bindungsdauer bei Sozialwohnungen bemängelt.

Walberg: Das sind zwei Paar Schuhe. Das eine Problem ist, dass es zu wenig Sozialwohnungen gibt, weil zu wenig sozialer Wohnungsbau betrieben wurde. Es gibt – auf den Westen bezogen – nur noch vier Bundesländer, die sozialen Wohnungsbau betrieben haben: Schleswig-Holstein, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Bayern. Alle anderen sind ausgestiegen und haben hinsichtlich des sozialen Wohnungsbaus nichts mehr getan. In Berlin wurde bis 2015 20 Jahre lange keine einzige Sozialwohnung geschaffen. Niedersachsen hat sogar sein Zweckvermögen verkauft.

Das zweite Problem ist, dass der Anteil an Sozialwohnungen nicht erhöht wurde. Eigentlich sollte die Faustregel lauten: kein Wohnungsbauprojekt ohne 30 Prozent für den sozialen Wohnungsbau. Das machen zwar Hamburg und Schleswig-Holstein so, aber es ist viel zu spät gestartet. Auch die Kommunen haben das teilweise verschlafen. Es hätte auch auf privaten Grundstücken durchgesetzt werden müssen.

Das Auslaufen der Bindungsfristen hat auch strukturelle Gründe. Bei Bindungsfristen bis 70 oder 99 Jahren werden Wohnungen mehrmals saniert, modernisiert und oftmals auch umgebaut werden müssen. Dafür sind Mittel notwendig aus der sozialen Wohnraumförderung, damit danach die Wohnungen weiter als sozialer Wohnungsbau vermietet werden können. Wenn man in Bestandswohnungen investieren will, in denen die Belegungsbindung noch weiter läuft, kann keine neue Wohnraumförderung beantragt werden. Es macht also Sinn, dass die Bindung nach 35 Jahren ausläuft. Nur: Dann muss die Bindung weitergehen. Im Übrigen gibt es genug Instrumente, um die Belegungsfristen zu verlängern. Die Bundesländer können beispielsweise Belegbindungen ankaufen, dafür muss es natürlich Bundesmittel geben.

B_I: Das betrifft den Wohnungsbestand, schafft aber noch keine neue Wohnungen.

Walberg: Man muss das alles im Gesamtpaket denken. Wenn 400.000 Wohnungen gebaut werden, kann die Sanierungsrate nicht verdoppelt werden. In Deutschland werden pro Jahr 290 Milliarden für den Wohnungsbau ausgegeben. Das ist das größte zusammenhängende Investitionsvolumen aller Wirtschaftssektoren. Davon gehen knapp 90 Milliarden in den Neubau und knapp 200 Milliarden in den Bestand. Das ist eine gigantische Summe. Und von den 290 Milliarden gehen 50 Milliarden in die energetische Modernisierung. Wenn die energetische Modernisierung erhöht werden soll, reicht der Etat von 50 Milliarden nicht. Denn die Kosten steigen progressiv, je intensiver modernisiert wird. Der Etat müsste also auf 110 bis 150 Milliarden pro Jahr steigen, also auf das Doppelte bis Dreifache des bisherigen Etats. Das Problem ist: Erstens muss das Geld da sein, und zweitens müssen die Arbeitskräfte dafür da sein. Wenn also die Sanierungsrate steigen soll, geht der Wohnungsbau zurück. Erst wenn das begriffen wurde, kann eine Strategie für die nächsten 23 Jahre, also bis zur Klimaneutralität 2045 verfolgt werden.

„Wer davon träumt, aus unserem Wohnbaubestand High-End Effizienz-Häuser zu machen, der hat sich als sachlicher Gesprächspartner ausgeschlossen.“ Dietmar Walberg

B_I: Die Erfahrung zeigt, dass bei zunehmenden Anforderungen an die Wärmedämmung für den Klimaschutz die Baukosten steigen.

Walberg: Der Anteil der energetischen Anforderungen an den Baukosten ist sehr groß. Minister Harbeck spricht vom Stand der Technik. Allerdings scheint er nicht verstanden zu haben, dass in Deutschland immer noch die Regel der Technik gilt. Er geht davon aus, dass 80 Prozent aller Gebäude dem KFW 55-Standard entsprechen. Das mag richtig sein. Wenn aber zehn Prozent der entstandenen Wohnungen bezahlbarer Wohnraum sind, und 80 Prozent der Wohnungen KFW 55 sind, dann müsste ihm das soziale Dilemma klar werden. Es macht weder im Bestand noch im Neubau Sinn, auf diese bewährten Neubau-Standards zu setzen. Nicht, dass es nicht wünschenswert wäre, wenn es so käme, aber es ist nicht möglich. Wer davon träumt, aus unserem Wohnbaubestand High-End Effizienz-Häuser zu machen, der hat sich als sachlicher Gesprächspartner ausgeschlossen. Wie will man das erreichen? Dann reden wir nicht mehr von 110 bis 150 Milliarden Euro, sondern vom Doppelten bis Dreifachen der Summe. Diese Beträge sind nicht aufzubringen. Wir reden über 3,6 Billionen Euro nur für die energetischen Komponenten bis zum Jahr 2045.

B_I: Sprechen wir abschließend noch über die behördlichen Genehmigungsverfahren. Sie gelten als Kritiker, hat sich die Lage in den letzten Jahren geändert?

Walberg: Es hat sich geändert, es ist nämlich noch viel schlimmer geworden. Und zwar im nicht mehr tolerierbaren Rahmen. Dazu hat zunächst die Coronapandemie beigetragen. Die Kommunen haben sich in dieser Phase nicht mit Ruhm bekleckert, die sind einfach abgetaucht. Und es ist kein Verständnis mehr da, dass teilweise überhaupt nicht mehr gearbeitet wurde. Die Genehmigungsverfahren haben sich drastisch verlängert, und es ist auch kein Ende abzusehen. Ein anderes Problem ist die personelle Ausdünnung. Das hängt mit der Besoldung zusammen, bei den Kommunen wird schlechter bezahlt als beim Land, Bund und in der Industrie. Zusätzlich gibt es in den Behörden eine Tendenz zur Spezifikation als Experten für bestimmte Bereiche wie Brandschutz oder Barrierefreiheit. Es fehlen die Generalisten, die Entscheidungen treffen konnten. Mein Appell geht an die Kollegen in den Planungsämtern: Sie müssen wieder lernen, Entscheidungen zu treffen. Ein neues Ministerium wird daran nichts ändern, weil es die Landesebene betrifft. Es müssen kurzfristig die Ausbildungskapazitäten verbessert werden. Der wirkliche Flaschenhals der nächsten Jahrzehnte sind die Planungskapazitäten.

B_I: Welchen Appell würden Sie gerne an die Akteure in Behören und in der Bauwirtschaft richten?

Walberg: Ein großes Problem in Deutschland ist die sich zunehmend öffnende soziale Schere. Das betrifft sowohl den Neubau als auch die Bestandswohnungen. Das Bezahlbarkeitsproblem wird größer, ein zunehmend größerer Anteil der Bevölkerung kann die Kosten und die Mieten nicht mehr tragen. Da muss gegengesteuert werden und Geld zur Verfügung stehen. Auf Bundesebene würden jährlich 30 Milliarden benötigt für die energetische Sanierung, mindestens sechs Milliarden für den Umbau in Altengerechtigkeit, sechs Milliarden für den sozialen Wohnungsbau und acht bis 14 Milliarden nur für den Ausgleich der Unwirtschaftlichkeit bei der energetischen Modernisierung, also für Kosten, die nicht umlagefähig sind.

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B_I: Vielen Dank, Herr Walberg, für das Gespräch.
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